Musik macht klug
Ein Gespräch mit dem Frankfurter
Pädagogikprofessor HANS GÜNTHER BASTIAN
von Spahn
DIE ZEIT: Herr HANS GÜNTHER BASTIAN, Sie haben in einer
Langzeitstudie die Auswirkungen von Musikerziehung auf die Entwicklung von
Kindern untersucht. Was sind Ihre Ergebnisse?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Unsere Studie ist die bisher umfangreichste
in Europa. Von 92 bis 98 haben wir in Berlin, wo die Grundschule sechs Jahre
dauert, Kinder in Schulklassen begleitet, die ein Instrument lernen, in Ensembles
spielen und einen wöchentlich zweistündigen Musikunterricht erhalten.
Diese Klassen haben wir verglichen mit solchen, die nur eine Wochenstunde
Musik erhalten.
DIE ZEIT: Und geht mit Musik alles besser?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Sicher nicht im Sinne eines Kochrezeptes:
"Man nehme Musik ..." Es gibt nicht die Wirkung der Musik auf den
Menschen. Aber wir haben festgestellt, dass bei den Kindern mit musikbetontem
Unterricht die soziale Kompetenz viel ausgeprägter ist. Es gibt in den
Klassen weniger ausgegrenzte Schüler, so die eindeutigen Befunde unserer
Soziogramme, denen die Frage zugrunde lag: Welchen Schüler in deiner
Klasse magst bzw. magst du nicht so gerne? In diesem sozialen Bereich sind
die Ergebnisse für mich zum Teil sensationell. In den musikbetonten Klassen
ist über die gesamte Grundschulzeit die Anzahl der Positivwahlen deutlich
höher als in Klassen ohne Musikschwerpunkt, und die Anzahl der Kinder,
die keine einzige Ablehnung erhalten haben, ist doppelt so hoch. Musikerziehung
fördert also ein emotional positiv aufgeladenes Klassenklima. Die Lehrer
haben auch beobachtet, dass Schulvandalismus und Aggressionspotenziale zurückgehen
und die Kinder in der Pause anders miteinander umgehen.
DIE ZEIT: Ein überraschendes Ergebnis?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Nein. Musik ist das sozialste Medium überhaupt.
Sie führt Menschen zusammen. Im Ensemblespiel etwa ist man aufeinander
angewiesen, um etwas Gemeinsames zu schaffen.
DIE ZEIT: Sie haben auch festgestellt, dass Kinder, die ein Instrument
lernen, intelligenter werden. Musik macht klug - klingt das nicht fast wie
eine Drohung?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Es stimmt, tatsächlich können
wir nach vier Jahren erweiterter Musikerziehung einen deutlichen Zugewinn
beim Intelligenzquotienten feststellen. Wir haben Intelligenztests eingesetzt,
in denen das "Bildungskapital" des familiären Milieus nicht
als Störfaktor eingeht.Unsere Modellschulen wurden bereits im Berlin
der siebziger Jahre in so genannten Arbeiterbezirken Neukölln, Wedding
oder Tiergarten eingerichtet, um soziale Defizite ausgleichen zu können.
Die vorteilhafte Entwicklung ist also eindeutig nicht auf das Bildungsmilieu
der Eltern zurückzuführen, sondern auf den intensiven Umgang mit
der Musik. Gerade Kinder mit anfangs eher schwachem IQ haben durch die Musik
im Vergleich deutlich dazugewonnen.
DIE ZEIT: Und ein Instrument zu lernen funktioniert auch in sozial
schwachen Familien?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Natürlich kann man nicht davon ausgehen,
dass in beengten Wohnverhältnissen und bei Eltern, die gestresst von
der Arbeit nach Hause kommen, intensiv geübt wird. Das geschieht weitgehend
im schulischen Alltag. Man will ja keine Profimusiker produzieren. Das Prinzip
just for fun darf nicht verloren gehen. Die in Bildungsbürgerkreisen
neurotischste aller Elternfragen: "Hast du heute schon geübt?"
wird natürlich nicht gestellt.
DIE ZEIT: Warum macht Musik intelligent?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Musik hat stets mit Ratio zu tun, ist Tektonik,
Struktur, Architektur. Es steckt Raum- und Zeitdenken in jeder Komposition.
Es wird eine Fülle von abstrakten, komplexen Denkprozessen angestoßen.
Wenn ein Kind zum Beispiel vom Blatt spielt, muss es schnell und gleichzeitig
Informationen in extremer Fülle und Dichte speichern und verarbeiten.
DIE ZEIT: Ihre Studie legt den Schluss nahe, Musik sei vor allem als
Therapie gut bei sozialen und gesellschaftlichen Problemen. Ist das nicht
eine gefährliche Verschiebung der Bedeutung von Musik? Der Grund für
die Beschäftigung mit Musik ist doch die Musik selbst und sonst nichts.
HANS GÜNTHER BASTIAN: Sehr richtig. Ich will den Musikunterricht
in den Schulen nicht über Transfereffekte legitimieren. Musik soll nicht
für außermusikalische Zwecke vernutzt werden. Das wäre das
Kontraproduktivste, was aus unseren Ergebnissen abgeleitet werden könnte.
Oscar Wilde hat gesagt: "Alle Kunst ist zwecklos." Man kann auch
Adorno zitieren: "Alles, was eine Funktion hat, ist ersetzlich. Unersetzlich
ist nur, was zu nichts taugt." Die Freude an der Musik als Freude am
Schönen bleibt primär.
DIE ZEIT: Und diese Freude ist da? Oft ist das pädagogisch wertvolle
Spielzeug bei den Kindern ja gerade nicht sehr begehrt.
HANS GÜNTHER BASTIAN: Klar, die Gefahr der Pädagogisierung
kann natürlich manches zubauen. Zunächst gilt: Alle Kinder sind
musikalisch. Schauen Sie doch, wie Kleinkinder auf Musik reagieren! Musikunsensible
Eltern, Lehrer oder Erzieherinnen in den Kindergärten allerdings können
vieles kaputt machen. Da werden manche Kinder traumatisiert. Wenn die Mutter
ihrem Dreijährigen sagt: "Sei still, du singst falsch" und
so ein Kind dann in der Grundschule zu vier Jahren Einzelhaft an der Triangel
verdonnert wird. Diese Kinder gewinnen wir nicht mehr für die Musik.
Die werden dann leider ausschließlich okkupiert von Guildo Horn.
DIE ZEIT: Beschäftigen sich die Kinder in den Modellschulen eigentlich
mit so genannter E-Musik oder auch mit Pop?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Sowohl als auch, wenn man die Aufteilung
überhaupt aufrecht erhalten will. Da wird Klassik verpoppt und Pop mit
klassischen Instrumenten gespielt. Die Musiklehrer müssen arrangieren
können für die Instrumente, die in der jeweiligen Klasse vorhanden
sind. Wir haben Schwerpunktschulen mit Chor, mit Streichern, mit Bläsern,
mit Gitarren-AGs und gemischten Ensembles. Der Unterricht ist sehr stark handlungsorientiert,
keine Theorie, kein Quintenzirkel, keine Tonleiter. Es entspricht auch den
neuesten hirnphysiologischen Untersuchungen, dass Kinder Musik figural lernen
im Tanz, im Bewegen, im Singen, im Spiel.
DIE ZEIT: Hätte man die Ergebnisse der Studie eigentlich auch
mit anderen kreativen Tätigkeiten erzielen können, zum Beispiel
mit Töpferkursen?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Ich kann mir gut vorstellen, dass man auch
in anderen Fächern entsprechende Transfers feststellen kann. Aber das
sag ich mit voller Überzeugung: Es gibt kein zweites Fach, das diese
Kombination von kontinuierlicher Achtsamkeit und Planung, von ständig
sich verändernder geistiger und physischer und psychischer Beanspruchung
so fordert wie die Musik.
DIE ZEIT: Welche bildungspolitischen Schlüsse muss man aus Ihrer
Studie ziehen?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Dass die Kinder in allen Bundesländern
Deutschlands zwei Stunden Musikunterricht pro Woche erhalten, dass sie in
der Schule ein Instrument lernen können und die Chance haben, im Ensemble
zu musizieren.
DIE ZEIT: Tatsächlich aber findet der Musikunterricht an den Schulen
oft gar nicht statt.
HANS GÜNTHER BASTIAN: Ja, die Quote ist eklatant. Nach den Statistiken
des Verbandes deutscher Schulmusiker fallen in Nordrhein-Westfalen oder Hessen
80 Prozent des Musikunterrichts an Grundschulen entweder aus, oder es wird
fachfremd unterrichtet. Auch in Bayern und Baden-Württemberg werden die
kulturellen Bestände in den Schulen reduziert. In den Haupt- und Realschulen
müssen die Schüler wählen zwischen Kunst oder Musik.
DIE ZEIT: Was ist der Grund für diese Erosion?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Die Informationsgesellschaft macht ihre
Ansprüche geltend. Technologischem Wissen wird große Bedeutung
beigemessen. Die Naturwissenschaften wollen nicht zu kurz kommen. Und die
Fremdsprachen sind wichtig im gegenwärtigen Globalisierungsprozess. Man
kann das alles ja auch verstehen. Aber es darf nicht weiter so einseitig in
die Verhirnlichung der Schüler investiert und die Versinnlichung so vernachlässigt
werden. Die Hinrichtung der Sinne im Medienzeitalter führt dazu, dass
Sinngestaltung für uns zum Problem wird. Sinn, Denken, Bewusstsein kommt
doch immer erst durch unsere Sinne in Gang.
DIE ZEIT: Ihre Studie wird fast zeitgleich veröffentlicht
mit der politischen Initiative, schnell alle Schulen ans Internet anzuschließen.
Halten Sie das Projekt "Schulen ans Netz" für sinnvoll?
HANS GÜNTHER BASTIAN: Man soll die Schulen ans Internet anschließen,
und man soll die Schüler musizieren lassen. Warum geht nicht beides?
Wir können uns der technologischen Entwicklung nicht verschließen.
Aber die Technologie darf nicht zu einem Ghetto werden. Die Demokratisierung
der Musik durch die Medien hinterlässt ja auch positive Spuren. Es ist
nicht mehr wie einst, dass die Kammerzofe nur durch einen Türspalt im
Schloss Bachs Brandenburgisches Konzert mithören kann. Klassische Musik
ist für jeden verfügbar. Vielen Kindern fehlen nur die ästhetischen
Kategorien, mit Musik umzugehen. Wir müssen den Kindern die Angst nehmen
vor dem Nichtverstehen verstehbarer Musik. Heinrich Roth hat einmal gesagt:
Schule ist auch eine Art "Kontrastkonkurrent". Das heißt,
wir müssen dafür sorgen, dass die Kinder zu neuen ästhetischen
Erfahrungen kommen. Erziehung ist auch Erziehung zur Erfahrung, zur Mündigkeit.
Wir dürfen die Macht der Medien nicht zu unserer Ohnmacht werden lassen,
sonst haben wir gegen MTV und Viva verloren.
Das Gespräch führte Claus Spahn
Die Studie "Musik(erziehung) und ihre Wirkung" erscheint in Buchform
beim Schott-Verlag©
DIE ZEIT 15/2000
http://www.gag-schule.kwe.de/fach/musik/bastian.htm (30.12.04)